Freunde von Andreas Moskalenko |
Die Tulpen* |
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„Leise! Gleich kommt er wieder!“ Paul drückte das Mädchen wieder ins Gras zurück. Und wirklich, der Scheinwerfer hatte die weit entfernten Konturen der Anreicherungsfabrik erfaßt und war im nächsten Augenblick, diese große Entfernung durchspringend, wieder am Hügel gelandet. „Hast es nun gesehen?“ flüsterte Paul. „Wir beide sind fast Partisanen“, lachte Dina nervös auf. „Schweig!“ befahl er. „Der Scheinwerfer kann doch wohl nicht hören, nur sehen?“ „Paß bloß auf!... Knallt mit dem Maschinengewehr los, dann weißt du, wo's langgeht!“ Der Strahl aber blieb immer noch an der gleichen Stelle... „Sie suchen mit dem Fernstecher ab...“ „Paul, und wenn sie wirklich ...?“ „Gleich wird er verschwinden.“ „Paul, ich habe alle Tulpen zerdrückt.“ „Rühr dich nicht.“ Sie waren schon seit dem Morgen unterwegs, um Tulpen zu pflücken. Der Weg war recht weit und staubig. Es war stickig heiß. Sie hatten fünf alte kasachische Totenbestattungen zu umgehen, einen ausgetrockneten Fluß zu überqueren, hinter dem dann die hügelige Landschaft begann, die von rotgelben Tulpen völlig übersät war. „Alles nur deinetwegen“, flüsterte Paul. „Du mußtest ja unbedingt baden und sonnen. Nun liegt man hier wie ein Murmeltier in seinem Bau.“ Dina war beleidigt. Langsam, ganz langsam erlosch der Scheinwerfer. In der Dunkelheit hörte man nur das leise Rascheln des Steppengrases. Sie hoben die Köpfe und fanden weder die Lichter des Lagers noch der Stadt. „Haste das gesehen, wieder kein Strom. Deshalb stellen sie auch den Scheinwerfer an.“ „Vielleicht eine Havarie im Umspannwerk?“ „Natürlich wieder mal eine Havarie“, Paul klopfte sich den Staub von den Hosen. „Mein Vater sagt, daß dort alles längst veraltet ist.“ „Und warum wird nichts erneuert?“ „Mein Vater meint, keine Kräfte. Mit den Häftlingen könne man nur Familiengruften aus Lehm bauen, für etwas anderes würden die nicht taugen.“ „Und mein Vater sagt, Feind bleibt Feind.“ „Was weiß schon dein Vater... Nur befehlen kann er: Im Laufschritt — marsch! Mein Vater sagt, das kann auch ein Affe lernen!“ „Dein Vater hat selbst gesessen, deshalb redet er so.“ „Wa-a-s? Dann geh man deinen Weg allein suchen!“ Und der Junge verschwand in der Dunkelheit. „Paul! Paul?“, das Mädchen wandte sich in der Dunkelheit mal nach links, mal nach rechts. „Paul, ich habe Angst!“ Es ließ sich auf die trockene und heiße Erde nieder und begann zu weinen. Der Junge kam unhörbar zurück und legte sich neben das Mädchen. Es umschlang seinen Hals und mit der nassen Wange versengte sie fast seine Lippen. Und ihn übermannte wieder jenes Gefühl, das er heute verspürte, als Dina aus dem Wasser kam: Ihr gewirkter Badeanzug war durchsichtig genug, um die zwei Muttermale auf den beiden Hügelchen auf der Brust auszumachen, und zwischen den Beinen war eine so auffällige Falte, daß er, rot werdend, sich wegdrehte und zu pfeifen begann: „Weit ist mein Heimatland.“ Das Mädchen weinte, mit zitternden Händen knautschte er an ihrer Bluse und sprach ungelenk ihm bisher fremde Worte der Beruhigung aus. Sein Herz schien stillzustehen, als wenn er von einem Steilufer ins Wasser gesprungen wäre. „Nicht doch, nicht doch... ich bitte dich, ich schäme mich ... das darf ein Komsomolze nicht, das ist gemein“, murmelte das Mädchen, und machte sich frei, dabei immer noch aufschluchzend und zitternd. Er aber streifte ihren Träger vom Badeanzug herunter, und verspürte wieder jenes betäubende Gefühl der seinen Körper durchströmenden Kraft und Schwäche zugleich, als er ihre kleine Brust unter seinen flatternden Händen verspürte. Für einen einzigen Augenblick lag das Mädchen wie erstarrt, dann schubste es ihn energisch von sich. „Geh weg! Ich hasse dich! So einer bist du also?!“ Er lag und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. „War nicht mit Absicht geschehen, Dina. . . habe es nicht gewollt. Mein Ehrenwort!“ „Alle Blumen haben wir zerdrückt“, sagte Dina schon ohne Tränen, aber vorwurfsvoll. „Laß uns nach Hause gehen“, vertrauensselig strich sie über seine Schulter. Mit besonders hervorgekehrtem Erschrecktsein wich er vor ihr zurück. „Gehen wir, Paul!“ Er erhob sich. Sie suchte im Dunkeln nach seiner Hand, fand sie, und sie machten sich auf den Heimweg. Über dem Gulaglager schössen zwei weiße Raketen hoch und explodierten funkensprühend irgendwo über der Wolkendecke. Sie gingen lange durch die undurchdringlich scheinende Finsternis. Schon längst hätte die Stadt auftauchen müssen, aber die Steppe wollte und wollte sie nicht hergeben, führte sie in ihre unendliche Ferne. „Ich habe meiner Mutter versprochen, um 8 zu Hause zu sein. Haben wir uns etwa verirrt?“ „Verirren kann man sich nur im Wald“, lächelte Paul. „Hast du vergessen, daß wir morgen Geschichtsprüfung haben? ... Mutti wird schimpfen.“ „Und Vater?“ „Mein Vater hat heute Dienst. Sie wird es ihm nicht sagen... Du wirst doch bestimmt auch vermißt?“ „Nein, mein Vater macht heute Dienst im Umspannwerk“, sagte Paul leise. „Also hat er den Strom ausgeschaltet?“ „Ja, und dein Vater hat den Scheinwerfer angemacht.“ Sie gingen noch lange durch die tiefschwarze Finsternis. „Paul, ich bin sehr müde, ich möchte schlafen. Wollen wir nicht lieber den Morgen abwarten, wir haben uns ja sowieso verlauten “ „Laß uns noch ein bißchen weitergehen.“ Die Stadt aber war immer noch nicht zu sehen. „Ich kann nicht mehr“, sagte das Mädchen nachdrücklich. Sie ließen sich auf die glatten Rhomben der kahlen und vor Hitze auseinandergeplatzten Erde nieder. „In welcher Klasse willst du weitergehen?“ fragte Paul. „In meiner 9 b“, antwortete Dina schlaftrunken. Er machte sich sanft von ihr, die den Kopf auf seine Schulter senkte, los. „Schläfst du?“ „Nein. Ich wollte dich schon immerzu fragen, warum hast du in allen Fächern ausgezeichnete Zensuren und nur in Deutsch eine 3. Bist doch selbst Deutscher, und in Deutsch eine 3!“ „Wir Rußlanddeutschen haben eine ganze andere Sprache.“ „Und wie übersetzt ihr unser russisches Wort „Ljubow?“ „Liebe.“ „Na, siehst du“, sie lachte lautlos, „du tust nur so, natürlich verstehst du deutsch.“ „Ich mag ihre Sprache nicht.“ „Wessen?“ „Die der deutschen Deutschen.“ „Und warum?“ „Weil wir ihretwegen unsere Heimat verloren haben.“ „Aber ihr wollt doch, daß sie siegen.“ „Woher hast du das? Mein Vater ist Kommunist. Wir hatten die reichste Republik in der gesamten Sowjetunion!“ „Warum hat man euch dann ungesetzlich ausgesiedelt? Das ist doch ungerecht.“ Dankbar umarmte Paul das Mädchen. „Dina, du bist so schön. Ich mochte dich schon seit der 6. Klasse, gleich als ich dich sah, sofort ...“ „Sofort?“ „Ja.“ Sie nahm seine Hand und drückte sie leise lachend an ihre Brust. Er fingerte vorsichtig an ihrer Bluse herum. „Nicht doch, nicht doch“, sie wurde willenlos. „Du hast es mir doch versprochen... ich bitte dich... ich habe Angst“, flüsterte sie. Und als seine Hand über die Rundungen im Badeanzug streichelte, überkam beide ein schwereloses süßes Gefühl und die stickige Luft schien über ihnen in Trauben zu hängen. „Was tust du, was tust du!“ stieß sie heiß atmend hervor, in unterschwelliger Erwartung etwas noch Süßeren, Helleren, Furchterregenden und nun für sie beide Unumgänglichen — „Tulpen, Paul, die Tulpen“... Der plötzlich aufleuchtende Scheinwerfer kam derart unerwartet, daß sie beide einen Schrei ausstießen. Durch einen mitleidslosen blauen Strahl aus der Dunkelheit herausgerissen, fielen sie augenblicklich in Teile auseinander, flüchteten nach verschiedenen Seiten vor diesem gefühlslosen Lichtstachel, der sie fast direkt vom Wachturm gefangenhielt. Das Lichtbündel hatte mit einem Satz Dinas Beine eingeholt und schon schleuderten die freigelassenen Kugeln ihren Körper hin und her. Die allerletzte Kugel brachte sie, die sich in Todeskrämpfen wand, auf die heiße Erde zu Fall. Schädliche Schwäche bemächtigte sich Pauls, er lief, stolperte zweimal über irgendein Eisen, erkannte, daß das Eisenbahnschienen waren, die ins Lager führten, wollte sich vor dem alles sehenden Auge des Scheinwerfers auf der anderen Seite des Bahndamms verstecken. Er lief die Schienen entlang, für Licht und Kugeln nun nicht mehr erreichbar. Atemringend merkte er, daß jemand keuchend ihn einholte. Von dem furchtbaren Stoß schrie er auf, und in seiner panischen Angst vermochte er noch, mit den Beinen gegen das fauchende Tier zu treten. Er kam nicht mehr dazu, das Gesicht mit den Händen zu schützen, und erstickte durch den Luftstoß und am eigenen Blut... „Ma-ma-ma“, röchelte es noch in ihm, und der Scheinwerfer erlosch. Am vierten Tag wurden sie beerdigt. Die Trauermarschmusik übertönte die Stadt. Schüler trugen Tulpenkränze. Auf dem Laster saßen zu beiden Seiten neben den Särgen zwei Mütter in Schwarz, mit Zweigen die aufdringlichen goldgrünen Fliegen, die über den Gesichtern ihrer toten Kinder kreisten, vertreibend. Hinter den Wagen ging neben einem schwarzhaarigen kräftigen Offizier fast erblindet, ein hochgewachsener, ergrauter Mann — das waren die Väter der toten Kinder. Die staubige Straße führte am Lager vorbei, alle Dächer und auch nur die kleinsten Anhöhen waren voller Menschen. Der Prozession folgte stolpernd eine halbwahnsinnige alte Frau in einem langen grauen Kleid und bekreuzigte unablässig die vor ihr Gehenden, die Lagerwände und die grüne, stickige, weite und trockene Steppe, die noch unberührt dalag. WEK, 1969 Aus dem Russischen von Marianne Westphal *Die Kurzgeschichte wurde in der deutsche Zeitung "Neues Leben", Nr. 48, der 27. November 1991 auf Deutsche aufgedruckt. |