Freunde von Andreas Moskalenko |
Der blaue Hund* |
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Die goldene Morgensonne sickerte mit ihren schwachen Strahlen durch den Morgendunst. Sie schien auf die flachen Dächer der lehmgestampften Erdhütten, auf ein Kamel, das an einer Telegraphenstange festgebunden dastand, auf eine Tschetschenin, die mit einem orientalischen Krug auf dem Kopf Wasser holen ging, und auf zwei Jungen, die mitten auf einer Gasse Krieg spielten. Ein Sandhaufen stellte für sie den Sapun-Berg dar, den sie abwechselnd erstürmten. Ein großer Hund mit rötlichem Fell interessierte sich lebhaft für das Spiel. Er zerrte an seiner Kette, winselte und stellte sich auf die Hinterpfoten. Die beiden Jungen trugen über und über geflickte Hosen, graue Kattunhemden, waren barfuß, ausgemergelt und fast gleich groß. Von weitem hätte man sie für Zwillinge halten können, doch aus der Nähe war zu sehen, wie verschieden sie waren. Der eine, braunäugig, mit weichem, dunklem Haar, braun gebrannt und mit starken Backenknochen, war hager und sehr energisch. Wie ein Schauspieler fiel er zu Boden, getroffen von imaginären Kugeln. Er ballte die Faust und imitierte gekonnt das Geknatter eines Maschinengewehrs: „ra-ta-ta-ta-ta“. Der andere, blaß, blauäugig und blond, spielte ebenso eifrig, aber auf den Sapun-Sandnügel stieg er irgendwie unsicher, und im Nahkampf knickte er um wie ein Schilfrohr, fiel auf den Boden und verdrehte die Augen. „Franz, du Krepierling, los, vorwärts“, ermunterte der erste Junge seinen Gegenüber von der andern Seite des Sandhaufens her. „Ich will nicht mehr den Deutschen spielen“, erwiderte Franz. „Jetzt bist du dran, Wanjuschka!“ „Gut“, willigte der Schwarzhaarige bereitwillig ein. Franz legte sich auf den Sandhügel, und Wanjuscha, einen Kienspan zwischen den Zähnen, kroch langsam nach oben. Als er nach einem kurzen Handgemenge auf dem niedergeworfenen Feind saß und die Hand mit dem Kienspan, der einen Dolch darstellen sollte, hob, packte ihn plötzlich jemand am Ohr. Das war Onkel Rawil. Wanjuschka prallte heftig zurück, und flüchtete schnell wie der Blitz in die nächste Gasse. Auch Franz verdrückte sich mit einer Geschwindigkeit, die man ihm nicht zugetraut hätte. „Ai, Schakalskinder!“ kreischte Onkel Rawil und griff seinen Hund am Halsband. „Ich werde Euch Rowdies schon abgewöhnen, den Sand über den ganzen Aul zu verstreuen. Faß, Taimas, faß!“ Der Hund, von der Kette befreit, stürzte Franz hinterher. Er holte den Jungen am Zaun des Karbidwerkes ein, sprang an ihm hoch und leckte ihn freudig an der Wange. „Taimas — Pfui, laß das!“ sagte Franz lachend und versuchte, den großen Hundepfoten auszuweichen. Aber Taimas hatte zu lange und zu sehnsüchtig den beiden Jungen beim Spielen zugesehen, um sich jetzt so einfach abwimmeln zu lassen. Er sprang herum, kläffte und zerrte Franz am Hosenbein. Wanjuschka saß derweil nicht weit weg auf einer Mauer und pfiff eine Melodie aus dem Film „Der große Walzer“. Dann sprang er herunter und beide Jungen brachen in Lachen aus. „Er hat Taimas auf mich gehetzt!“ gluckste Franz. Auch Wanjuschka erstickte fast vor Lachen. Er umarmte den Hund und küßte ihn auf die schwarze Schnauze. Taimas sprang erstaunt zur Seite. Unterdessen hatte die Sonne den Morgendunst vertrieben und brannte nun ungehindert auf die Steppe nieder. Am Straßenrand wuchsen armselige Büsche der silbernen Dshida. Ihre langen Blätter hingen in Erwartung der Tageshitze traurig herunter. Unter dem heißen Atem des Steppenwinds zitterten die ausgedörrten Grashalme. „Es wird wohl 45 Grad haben“, sagte Franz, auf einem Balken balancierend. „Siebenundvierzig“, erwiderte Wanjuschka, während er noch, unreife, längliche, grünsamtene Beeren von einem Dshida-Strauch pflückte. „Du hast gepennt, als es im Radio durchgegeben wurde!“ „Na was macht das schon, daß ich gepennt habe. Hauptsache, meine Ohren haben nicht gepennt.“ Plötzlich sahen die beiden einander an. Sie erinnerten sich an etwas, schwangen sich über den Zaun und rannten zum Aul. Taimas traute sich nicht, über den Stacketenzaun zu springen. Er rannte so lange hin und her, bis er ein Loch fand, durch das er sich hindurchzwängen konnte. Dann stürzte er dem Jungen nach. * * * Martha saß am Fenster. Wo die Jungen nur blieben? Ihretwegen würde sie heute zu spät zur Arbeit kommen. Obwohl Martha schon 18 Jahre alt war, wirkte sie jünger. Sie war Franz sehr ähnlich, ihr ovales Gesicht war allerdings zarter als das ihres Bruders und ihre blauen Augen waren mit kaum sichtbaren Tüpfelchen übersäht. Sie konnte sich noch an die Wolga erinnern, an die Trauerweiden, die ihre langen Zweige ins Wasser hängen ließen und die mit ihren schmalen, länglichen Blättern der silbernen Dshida ähnelten. Sie sah in Gedanken das Gesicht des Vaters vor sich, der die Apfelbäume im Obstgarten weiß anstrich, an das Weinen der Mutter, als er kurz vor Ausbruch des Krieges plötzlich abgeholt und weggebracht wurde. Dann wurden sie, Martha, die Mutter und der kleine Franz, zusammen mit anderen Deutschen in einen Waggon gepfercht. Niemand wußte, wohin der Zug fuhr. Mal standen sie tagelang an irgendeiner Telegrafenstange, dann wieder fuhren sie in Windeseile Kilometer um Kilometer, vorbei an Städten, Dörfern und Wäldern. ...Wieder einmal stand der Zug. Die Familie verzehrte gerade ihr dürftiges Mittagessen, als sich ein kleiner Junge mit verweinten Augen schüchtern dem Koffer näherte, der als Tisch diente. Wie der Kleine in den Zug gekommen war und wo seine Mutter steckte, wußte niemand. Müde von den nutzlosen Nachforschungen ließen auch die barmherzigsten Deutschen allmählich von ihm ab und nun verkroch er sich bald in einer, bald in einer andern Ecke des Waggons und weinte. Und nun kam er, wischte sich mit seinen schmutzigen Fingerchen die Tränen aus den Augen und nahm zögernd eine kleine Scheibe Brot vom Koffer. Franz, der damals auch noch ganz klein war, stieß seinen Altersgenossen weg. Die Mutter aber wies ihren Sohn zurecht und reichte dem Jungen eine kleine Scheibe Blutwurst. Es stellte sich heraus, daß er Wanjuschka hieß. Seine Mutter — so erzählte der Kleine — hatte ihn in den Zug gesetzt und war weggegangen, um ihm Süßigkeiten zu kaufen. Da fuhr der Zug los. Eigentlich wollten die beiden nur eine kleine Fahrt ins Grüne machen... Mitten in der Nacht hielt der Zug an. Irgendjemand gab den Befehl, sofort auszusteigen. Martha, die Mutter, Franz und Wanjuschka rafften eilig ihr Gepäck zusammen und drängten hastig nach draußen. Dort war es stockfinster. Schlaftrunken stolperten sie den Bahnsteig entlang, eine Treppe hinunter und dann hinein in die Dunkelheit der Steppe. Das Gepäck war schwer. Martha sah gar nicht, wie Onkel Hermann auf sie zukam. Er half ihnen die Koffer zu tragen. Irgendwann lag sie dann auf einer Decke zwischen Wanjuschka und Franz, schaute in den niedrigen, schwarzen Himmel und lauschte einem Rauschen, das von irgendwo her kam und das nicht verstummen wollte. Am nächsten Morgen sah sie dann in der Ferne den Aul, und neben sich die schlafenden Menschen. Onkel Hermann versuchte erfolglos, das Lagerfeuer anzufachen und blies dabei drollig die Backen auf. Er erklärte ihr, daß es der große Balchasch-See sei, der da rauschte. „Dort gibt es viele Fische“, sagte er. „Das Überleben ist also kein allzugroßes Problem.“ Hinter einer kleinen Anhöhe waren Fabrikschlote zu sehen... Heute arbeitet Martha in dieser Fabrik, in der Werkabteilung. Der Krieg ist schon seit einem Jahr zu Ende, und es hieß, der Vater werde zurückkehren. Wenn er nur endlich käme! Die Mutter liegt schon lange im Krankenhaus, und das Leben wird immer schwerer. Marthas Lohn reicht hinten und vorne nicht. Man muß Nikolaj Iljitsch dankbar sein, daß er auch Wanjuschka die Brotkarte ausschreibt. Zusätzlich 300 Gramm — das ist schon ein echter Reichtum. Und Wanjuschka ist ein guter Junge. Er tollt zwar viel herum, lernt aber besser als Franz. Niemals drückt er sich vor der Arbeit. Fast jeden Tag bringt er vom See Fische nach Hause. Sonntags steht er in aller Herrgottsfrühe auf, weckt Franz, und die beiden gehen in die Brotfabrik. Dort arbeiten sie als Lastträger. Dafür erlaubt man ihnen, alle Brotrinden aufzusammeln. Wenn sie einen guten Natschalnik haben, bekommt jeder von ihnen einen schwarzen Prijanik. Franz und Wanjuschka teilen sich einen Halben, die andere Hälfte heben sie für Martha auf. Den zweiten Kuchen bringen sie Mutter ins Krankenhaus. Im Frühjahr stand Martha einmal vor dem Anschlagzettel in der Arbeitersiedlung. „Der große Walzer“ — wie gern würde sie sich diesen Film anschauen. Aber nein, als Hausfrau durfte sie sich das nicht ertauben. Plötzlich erschien Wanjuschka und faßte sie bei der Hand. „Möchtest du ins Kino, Martha?“ — „Menschenskind, hast du mich erschreckt!“ — „Möchtest du?“ — „Ich möchte schon“, sagte sie und hoffte im stillen, daß Wanjuschka ein Wunder vollbringen würde. „Komm, ich führ dich hin.“ Sie folgte Wanjuschka. Am Eingang des Kinos stand Franz und tänzelte vor Ungeduld, so gern wollte er hinein. Wanjuschka ging forsch auf die Platzanweiserin zu. „Tante Frosja, Franz und ich haben gestern Programme ausgetragen. Wir haben aber heute keine Lust, ins Kino zu gehen. Darf anstatt dessen unsere Schwester 'rein?“ Die Platzanweiserin lachte. „Ja, sie darf. Komm, Mädchen.“ * * * Der heisere Ton der Fabriksirene drang in die enge Erdhütte. Es ist schon zwei Uhr. Welche Schande würde es sein, zu spät zu kommen. Wo stecken die beiden nur? Da kamen endlich Wanjuschka und Fritz um die Ecke gerannt. „Wo wart ihr denn?“ fragte Martha auf Deutsch und zog streng die Augenbrauen zusammen. „Wir sind 'rumgelaufen“, sagte deutsche Wanjuschka verlegen. „Ja, 'rumgelaufen“, bestätigte Franz aus Russisch. Die Schwester legte schweigend zwei aufgesprungene Tomaten und zwei dünne Scheiben Brot auf den Tisch, goß Bohnensuppe in die Teller und nahm vom Kleiderhaken ein altes, kariertes Jackett. Schon beim Weggehen sagte sie auf russisch: „Eßt und geht zur Mutter ins Krankenhaus. In der Schublade liegt Gebäck und Zucker. Und treibt euch abends nicht zu lange herum. Wenn ihr um zehn Uhr noch nicht im Bett seid, könnt ihr was erleben.“ Die Jungen atmeten erleichtert auf. Sie kannten Marthas Gewohnheit: Wenn sie sehr böse war, sprach sie nur deutsch; besserte sich ihre Laune, dann vermischte sie deutsche und russische Sätze. Wenn sie sehr fröhlich war, ließ sie in ihre Rede sogar tschetschenische und kasachische Brocken einfließen. Beruhigt versprachen die Jungen, brav zu sein. Martha trat hinaus. Auf der Schwelle lag der riesige, rotharige Taimas. Die Hitze machte auch ihm zu schaffen. Er ließ die Zunge aus dem Maul hängen und hechelte. Martha wollte zuerst Wanjuschka bitten, den Hund wegzujagen. Aber dann fiel ihr ein, daß sie ihm ja böse war. Sie stieg also tapfer über Taimas und ging fort, ohne sich noch einmal umzudrehen. Wanjuschka öffnete ein wenig die Tür und rief: „Taimas — zu mir!“ Flink schlüpfte der Hund in das dunkle, kühle Zimmer der Erdhütte. Franz goß Suppe aus seinem und aus Wanjuschkas Teller in einen Blechnapf und stellte ihn auf den Fußboden. Jetzt war im Zimmer nur noch Schmatzen und Glucksen zu hören. Nach dem Mittagessen beschloß Franz, das Meer und ein paar Seegelschiffe zu malen. Da es kein Papier gab, holte er sich ein paar alte Zeitungen. Wanjuschka schaute ihm lange über die Schulter und sagte plötzlich: „Zeichne Taimas!“ „Kann ich nicht. Ich kann nur das Meer und Segelschiffe zeichnen.“ „Versuchs doch!“ — ließ Wanjuschka nicht locker. „Ich hab doch keinen Rotstift, sondern nur den blauen, den du mir zum Geburtstag geschenkt hast.“ „Dann zeichne halt mit dem blauen!“ „Du wirst lachen.“ „Das werd' ich nicht, ich schwör's dir!“ „Gibt es denn blaue Hunde?“ „Aber es gibt doch das schwarze, das rote und das Marmormeer.“ „Ja, die gibt es,“ nickte Franz. „Zeichne ihn so, wie er schläft. Ich werde nicht zugucken. Ich geh' weg.“ „Ja, tu das.“ Wanjuschka schlich auf Zehenspitzen zur Tür, um den Hund nicht zu wecken. Taimas schlug mit dem Schwanz auf den Erdboden, ohne die Augen zu öffnen. Die Sonne hing im Zenit wie ein glühender Tropfen Quecksilber. Die Gassen waren wie ausgestorben. Nur einmal huschte die Tschetschenin mit dem Krug vorbei und irgendwo meckerte traurig eine Ziege. Am weißglühenden Himmel schwebte ein kaum wahrnehmbarer Vogel. Aus Langeweile kickte Wanjuschka eine leere Konservendose vor sich her und stieß sie dann mit einem kräftigen Tritt weit weg. Ihm fiel ein, daß er schon am Vormittag einen ,Gasik’-LKW vor Borka Preobrashenskis Haus gesehen hatte. Borkas Vater wurde doch sonst immer mit einem ‚Willies’ abgeholt. Man mußte herausfinden, was das zu bedeuten hatte. Vor Borkas Haus, dem einzigen Ziegelhaus im Aul, steckte Wanjuschka zwei Finger in den Mund und pfiff. An einem der Fenster wurden die Plüschvorhänge auseinandergezogen, und ein feistes Gesicht erschien. „Was willst du, Japs?“ fragte Borka mit vollem Mund. Wäre Borka vor ihm gestanden, hätte Wanjuschka ihm diesen Schimpfnamen heimgezahlt, obwohl Borka drei Jahre älter war. So aber konnte er nur drohen: „Sei still, du Eber. Wirst Prügel bekommen und sofort zum Mütterchen laufen!“ „Wer? Ich — von dir?“ Borka kräuselte verächtlich die Lippen. Wanjuschka hatte keine Lust, sich zu streiten. „Wird der Gasik dein Papachen abholen?“ „Ja, wir fahren zum Angeln an die Bucht — mit Übernachtung.“ „Oh“ Wanjuschka konnte seine Begeisterung nicht verhehlen. „Vater, Vaters Chef, der einbeinige Grischka, Wasska und ich.“ fügte Borka hinzu. „Ach Borja“, flehte Wanjuschka, „nehmt mich doch auch mit. Ich kann sehr gute Köder für die Angelhaken machen!“ „Für Angelhaken!“ lachte Borka von oben herab. „Wir fangen die Fische mit einem Netz.“ „Ich kann Netze flicken, Senkblei und Schwimmer festbinden, Fische ganz schnell aus dem Netz 'rausnehmen. Frag doch deinen Vater!“ „Na gut, meinetwegen. Ich frag mal.“ Wanjuschka wäre beinahe vor Hitze gestorben. Endlich öffnete sich die Haustür, und Borkas Schweinsäuglein blinzelten in das helle Licht. „Komm, Japs. Vater will dich sprechen.“ Ohne auf die Beleidigung zu reagieren, huschte Wanjuschka durch die Tür. Borka führte ihn in ein angenehm kühles und dunkles Zimmer. Darin stand ein Tisch, vollgestellt mit Speisen, die Wanjuschka noch nie gesehen hatte. Drumherum saßen Erwachsene, angeheitert und mit geröteten Gesichtern. Wahrscheinlich hatten sie schon etwas getrunken. „Ah, Wanka-Wstjanka!“ sagte Borkas Vater lächelnd. Wanjuschka fand, daß er einem Kolobok ähnlich sah. „Warum nennt dich mein Sohn immer den Japs?“ Borka hielt sich den Bauch vor Lachen. „Weißt du, Vati, — als er in die erste Klasse kam, haben wir ihn gefragt, ob er für den Mond oder für die Sonne ist. Und der Blödmann hat gesagt ,Für die Sonne'. Und wenn er für die Sonne ist, dann heißt das, er ist für den schlitzäugigen Japaner. Und deshalb nennen wir ihn alle den Japs.“ Die Erwachsenen lachten gutmütig, aber Wanjuschka hätte vor Scham in der Erde versinken können. „Nikolai Jewsejewitsch“, wandte sich Borkas Vater an den hageren, hochgewachsenen Mann neben ihm. „Er ist ein guter Junge. Voriges Jahr hat er mir ganz allein einen LKW mit Ziegeln beladen — für eine Portion Eis...“ Wieder lachten die Männer, aber der hagere Chef blieb ernst. „Und die Mutter? Wird sie nicht schimpfen?“, fragte er. „Nein“, hauchte Wanjuschka. „Mutter liegt im Krankenhaus“. „Er ist ein Waisenkind“, seufzte Borkas Vater. „Eine Deutsche hat ihn auf der Straße aufgelesen. Der Junge hat kein richtiges Leben, plagt sich nur ab.“ Diese Worte gaben Wanjuschka einen Stich ins Herz, aber er schwieg. „Geh nach Hause, zieh dich wärmer an und komm“, sagte der Chef und winkte mit der Hand. „Wir übernachten nämlich an der Bucht, um sieben Uhr bist du am Wagen.“ „Danke!“ flüsterte Wanjuschka und ging langsam, wie auf Zehenspitzen aus dem Haus. Erst nachdem er die Haustür vorsichtig hinter sich ins Schloß fallen gelassen hatte, hüpfte er vor Freude und Erleichterung in die Höhe, lachte und flitzte nach Hause. Franz hörte traurig seine Erzählung an, und als Wanjuschka in der Rumpelkammer wühlte, um seine alte Steppjacke zu finden, schnaufte Franz durch die Nase und sagte: „Ich kann dir-den blauen Hund schenken...“ „Zeig her! Oh, haargenau Taimas! — Danke!“ Wanjuschka hatte alle Hände voll zu tun. Er verstaute In seinem Rucksack die durchlöcherten Gummistiefel, ein abgerissenes Stück Seil, einen Fetzen Zelttuch, einen Wickel Draht, Salz, eine Gurke und ein Stückchen Brot. Franz ging währenddessen zur Mutter ins Krankenhaus. Er kehrte in trauriger Stimmung zurück. Lustlos schlenderte er durch die Gassen, blieb hin und wieder stehen und starrte in den Himmel. Vor einer abgebröckelten Kalkwand machte er halt und versuchte, mit einem Stück Kohle ein Segelschiff zu zeichnen. Aber es wollte ihm nicht gelingen. Es schien, als ob die Sonne sich von der ausgedörrten Erde nicht trennen könnte. Wanjuschka saß zappelnd vor Ungeduld neben seinem gepackten Rucksack. Um sechs Uhr konnte er es schließlich nicht mehr aushalten und machte sich auf den Weg. Er war natürlich viel zu früh am Wagen. Als die andern endlich kamen, half er eifrig Brennholz, Zelte, das Fischemetz und das Gepäck auf den LKW zu laden. Sie stiegen ein. Der Motor brummte, der ganze Wagen zitterte. Wanjuschka saß neben Borka auf einem Schafspelz im Führerhaus. Borka stieß ihn schmerzhaft mit dem Ellenbogen in die Seite und fragte: „Ist es nicht fein?“ „Toll!“ pflichtete Wanjuschka ihm bei. Neben ihnen nahmen der einbeinige Onkel Grischa und Wassia Platz. Endlich traten auch Borkas Vater und sein Chef aus dem Haus. Im selben Moment sah Wanjuschka, wie Franz um die Ecke bog. Hinter ihm schoß Taimas hervor, als ob jemand ihm einen Stoß versetzt hätte. Trotz der Hitze hatte Franz den Mantel an, den Wanjuschka und er abwechselnd trugen (deshalb lernten sie in verschiedenen Schichten). In den Händen trug Franz eine Angel und ein Eimerchen. Wanjuschka erinnerte sich, daß er vor drei Stunden den Haken von der Angel abgeschnitten und mitgenommen hatte. Nur so, für alle Fälle. Und er wunderte sich, daß Franz nicht zu ihnen kam, sondern in einem großen Bogen um das Auto herumging. Ein Gedanke durchbohrte sein Herz: Franz bleibt die ganze Nacht allein. Er, Wanjuschka, läßt seinen Freund, sein Bruderherz im Stich. Aber — wenn sie ihn zum Angeln mitnahmen, können sie dann nicht auch Franz und den klugen Taimas mitnehmen? Nein! Man wird Franz nicht mitnehmen. Der Wagen ist jetzt schon viel zu voll. Keinesfalls wird man ihn mitnehmen. Borkas Vater ließ sich ächzend auf seinen Sitz fallen. „Los!“ Mit einem Ruck setzte sich der Wagen in Bewegung. Wanjuschka sah, wie Franz ihm nachblickte und mit der Hand die Strahlen der Abendsonne abschirmte. Da packte Wanjuschka seinen Rucksack, kletterte über die langen Beine von Wassja, öffnete die Tür und sprang aus dem anfahrenden Wagen. Franz stand da, lehnte den Kopf an eine Telegrafenstange und weinte. Taimas saß neben ihm und wedelte verwirrt mit dem Schwanz. „Hör auf!“ sagte Wanjuschka. „Jammerst wie ein altes Weib. Und du willst ein roter Kommandeur werden... Gehen wir. Wir kommen auch ohne sie aus. Am Pier kenne ich eine Stelle. Die Karpfen sind dort so groß! Kommst du mit?“ „Ja“ schniefte Franz. In dieser Nacht hatte Wanjuschka märchenhaftes Glück. Neben etlichen großen Barschen und andern Fischen planschte im Elmer ein kilogrammschwerer Karpfen. Franz sammelte an dem vom Mond beschienenen Ufer Holz für ein Lagerfeuer und Taimas, den Kopf auf die Pfoten gelegt, verfolgte mit den Augen den zitternden Schwimmer. Aus dem Wasser drangen die Gerüche von Fischen, Algen und Feuchtigkeit. Gegen Morgen erloschen allmählich die Sterne. Das Lagerfeuer glimmte kaum noch. Franz saß im Sand. Er umschlang seine Knie mit den Armen und sah erstaunt auf den schlummernden Hund, dessen Fell im fahlen Morgenlicht blau leuchtete. WEK, 1973 Deutsch von W. GALL * Die Kurzgeschichte wurde in der deutsche Zeitung "Neues Leben", Nr. 28, der 4. Juli 1990 auf Deutsche aufgedruckt. Diese Geschichte kann man im höchsten Grade als autobiographisch halten. |