Freunde von Andreas Moskalenko |
Die Bakenwärterin* |
||
Durch das eintönige und einschläfernde Brausen des Windes vermeinte sie in der Ferne ein beharrliches Tuckern zu hören. Sie setzte die Füße auf den Boden: Tuck-tuck, tack-tack. Auch die Wanduhr machte tuck-tuck, tack-tack. Sie hatte sich ein übriges Mal geirrt. Zündete die Petroleumlampe an. Das weiße Tischtuch hängt in kümmerlichen Falten herunter. Vergilbte Papierblumen in einem Körbchen. Vier Hocker. In der Ecke eine alte, eisenbeschlagene Truhe. Über ihr hängt lossifs Gewehr. Auf dem Antlitz der Gottesmutter in der Ecke blinkten im Feuerschein die Augen auf und starrten vorwurfsvoll... Mein Gott, wie lange das alles dauert, mein Gott! Da wartet und wartet man auf den Frühling, und er scheint deine Ungeduld vergessen zu haben. Schon die fünfte Nacht brennt das Licht an der Bake umsonst. Im Bootsmotor nur noch ein Rest von Benzin, ohne Brot sitzt sie schon die zweite Woche, hat Sehnsucht nach einer menschlichen Seele, sie hält's nicht mehr aus. Sie erhob sich langsam, horchte in den Sturm hinein, so daß das Herz stillzustehen schien. Vom Fluß her, den Sturm überschreiend, meldete sich eine Sirene. Ihr Gesicht wurde blutleer, mit zitternden Händen schlug sie ihr warmes Umhängetuch über Kopf und Schulter, die Finger wollten ihr beim Zuknöpfen ihres weißen, festlich wirkenden Halbpelzes nicht gehorchen. Er kommt! Er kommt! Danke dir, Gottesmutter, er kommt! Die Sirene heulte und heulte und tat der Bakenwärterin Sofja kund, daß der zwanzigste Winter vorbei ist, daß der Sommer kommt, daß das einundzwanzigste Glück des Wiedersehens mit Menschen Einzug hält. Sie lief auf den vom Wind durchpusteten Hof hinaus. Der Strahl des Scheinwerfers, wie ein Phantasievogel, durchschnitt die kalten Wellen des Flusses, stieg in die Höhe und stürmte wie ein Stier ans Ufer, hob zwischen den Riesenkiefern die einsame Hütte und die laufende Frau heraus. Jetzt heulte die Sirene schon eher feierlich. „Schon gut, schon gut! Weckst ja die ganze Taiga auf!“ rief die Bakenwärterin, lächelte und drohte dem anlegenden Kutter mit der Faust. „Sofja, fang das Seil auf! Haste es?“ „Ja!“ „Vertäue es, zieh straffer... Fertig? Walerka, das Fallreep!“ Im Scheinwerferlicht brachten drei Schiffer hurtig aus dem Schiffsraum Kisten und Säcke mit Lebensmitteln. Das Licht erlöschte, der Motor nieste noch mal kurz und stand still, ließ wieder den Wind zu Worte kommen, der die Wellen peitschte und die Kiefern knarren ließ. „Nun, ihr seid Prachtkerle! Willkommen! Ich habe mir schon alle Augen ausgeguckt, die Ohren gespitzt, gewartet und überlegt, wann mögen sie wohl kommen?“ „Ein Sturm ist das! Hat fast unseren Pott umgekippt!“ „Was soll er wohl sonst auch tun? Die zweite Woche tobt er. Legt ab. Wir essen zu Abendbrot. Hole gleich Fleisch und Fisch.“ Matrosen sind nun mal Matrosen, auch wenn sie auf einem Fluß zu Hause sind. Sie stellten eine Flasche Sprit auf den Tisch und — sieh mal einer an! — eine Flasche Champagner! Der junge Matrose Walerka wollte sich gleich an sie heranmachen, aber Kapitän Nikolai Stepanowitsch hinderte ihn daran. „Speziell für die Hausfrau!“ Er öffnete die Flasche und goß Sofja die Porzellantasse voll. „Also, trinken wir auf die Navigation! Auf die Gesundheit der Flußgöttin! Br-rr, ein starkes Gesöff! Wie hast du den Winter überstanden?“ „Ja, wie, Nikolai Stepanowitsch? Wie immer. Vielleicht ein wenig freudvoller. Ein Bräutigam für mich ist hier aufgetaucht.“ Nikolai Stepanowitsch, der Mechaniker Wassili und der Matrose Walera schauten einander an. „Was denn für ein Bräutigam?!“ fragte, die Luft anhaltend, der Kapitän. „Jung?“ „Heißt Michail. Ein ganz alter. Im Sommer hat er sich kein Fett angefressen, den Winterschlaf nicht angetreten und nun mallt er herum!“ Mechaniker und Matrose lachten laut los, als sie das lange Gesicht ihres Chefs sahen. Auch die Frau lachte, obwohl sie den Grund nicht ganz mitbekommen hatte. „Eines schönen Morgens muhte meine Sorka mit einer ganz komischen Stimme. Na, ich hole das Gewehr von der Wand, renne hinaus, und er, der Bär, abgemagert, das Fell in Fetzen, rüttelt an der Tür zum Kuhstall, er wollte wohl aus seinem Hunger heraus mal Rindfleisch probieren. Dieser Dummerjan, ist man gut, daß er es nicht geschafft hat, sonst hätte meine Dicke ihm ganz schön mit den Hörnern zugesetzt. Dieser Hungerleider tat mir nun leid, ich holte aus dem Eiskeller ein Dutzend Aalrauten, fünf Rebhühner — er fraß alles auf und trollte sich dann in die Taiga... Am nächsten Morgen muht meine Kuh wieder so komisch. Nichts zu machen, mußte ihn füttern. Nach einer Woche hatte er sich erholt, hatte zugenommen und begann zu fauchen, wenn ich mit dem Essen zu spät herauskam!“ „Hast du denn gar keine Angst gehabt? Ist doch ein wildes Tier!“ „Er hat sicher auch geglaubt, daß ich ihn aus Angst füttere. Aber als die Chanten mit Hunden ankamen, da hat er sich drei Tage im Windbruch versteckt.“ „Und wie hast du ihn verscheucht?“ „Das Eis kam in Gang, und in der Taiga konnte er sich schon ernähren. Ich habe einen Armvoll Heu mit Benzin bespritzt, vor der Tür ausgebreitet, etwas Schnee rübergefegt. Sowie er wieder an der Stalltür rüttelte, habe ich unter der Tür ein brennendes Streichholz rangehalten! O Gott, wie hatte er sich erschrocken, und wie er abgehauen ist! Seitdem war er nicht wieder erschienen.“ Die Schiffer brüllten vor Lachen. „Bist ein kluges Mädchen, Sofja. Direkt ein Rationalisator!“ Der Kapitän wischte sich die Lachtränen aus den Augen, dann wurde er plötzlich ernst. „Ich lebe ja praktisch auch allein. Das Haus ist zum Bersten voll, aber eine Hausfrau fehlt mir... Du bist ein Prachtmädel, Sofja!“ beendete er unerwartet. „Wenn Not am Mann, so wirst du eben zu einem Prachtkerl und Schmied. Sitzt mal hier allein — eine menschliche Stimme erscheint dir dann als Himmelsmusik.“ „Hör mal, Sofja, laß alles, zum Teufel, stehen und liegen und siedele dich in der Siedlung an. Wir haben einen Klub, Fernseher, Verkaufsstellen, für jede Braut gibt's sieben Bräutigame. Leb doch mal wie ein Mensch! Was soll das Alleinleben?! Andere Madams trinken doch Kaffee und rennen in teuren Klamotten herum, also warum nicht?“ „Ich habe gute Sachen! Hier... die Truhe ist bis oben voll!“ „Und warum liegen sie da?“ „Vor wem soll ich wohl schöntun? Vor den Hasen?“ „Das stimmt. Durch die Taiga kannst du nicht im Seidenkleid rennen, da fressen dich die Mücken, und kein Knöchlein bleibt übrig. Also, laß dich hier nicht bei lebendigem Leibe begraben... na ja, und die Ikone hast du ja auch wieder angebracht. Zu wem betest du? Du bist ja selbst schon lange eine Heilige. Solltest längst zu dir beten!“ „Verstehe ich alles, Nikolai Stepanowitsch, wenn ich hier wegziehe, wie kommt ihr dann ohne die Baken aus?“ „Kommt irgendeine Familie dann eben her. Du weißt doch, daß die Urahnen familienweise die Mammuts mit Steinen erschlugen.“ „Sie haben recht!“ seufzt die Frau schwer auf.
Die schwarze Frühlingsnacht hatte sich ans Fenster geklebt. Aus dem Vorraum hörte man das Geschnarche der Gäste. Leute! Leute! Wie beruhigt ist man, wenn neben dir Menschen sind, Männer... Mit lossif war es auch ruhig, man konnte sicher an seiner Seite durch das furchtbare Leben schreiten. Sie kann sich bis an die kleinsten goldenen Sandkörner des Wolgaufers erinnern und wie sie im Brautkleid aus dem Boot steigt, und an die strahlenden blauen Augen des Geliebten, und an Tage undurchdringlichen sonnigen Nebels: Ich war noch Mädchen, jetzt bin ich eine Frau, eine verheiratete Frau. Und dann stürzte alles zusammen! Im Werk arbeitete sie als Laborantin, er als Dreher. In der Mittagspause trafen sie sich wie zu einem Feiertag. Unter einer Eiche breiteten sie ihr Mitgebrachtes aus: Sie aßen hausgemachten Speck, Eier, tranken aus einer Flasche Tee, lachten und... küßten sich heimlich. Dann dieses dumme und unverständliche Wort „Krieg“. Dann irgend jemandes furchtbarer Erlaß: Evakuierung. Nicht aussiedeln, nicht umsiedeln, sondern evakuieren. Wenn lossif nicht gewesen wäre, so wäre sie gehorsam ihren Eltern gefolgt. Aber woher konnte er wissen, was sie Übersiedler erwartet, er war ja erst neunzehn Jahre alt?! Die Liebe war es wahrscheinlich, die ihm einsagte, sich nicht von der Geliebten zu trennen und bis ans Ende der Welt zu gehen, seine Liebe vor allen denen zu verstecken, die sie zerstören wollten... Sie flohen irgendwohin, schliefen umarmt auf Waggondächern im durchdringenden eisigen Wind und den Auspuffgasen der Lok. Lebten in einem Dorf im Ural, lossif half in der Schmiede aus, sie wusch das Geschirr in einer Arbeiterkantine. Dann sagte einmal Iwan, der Schmied, bei dem sie ein Zimmer gemietet hatten: „Flieht, Kinder, weiter nach Norden, Sibirien ist groß, es wird eure Liebe beschützen und verstecken...“ Er drückte ihnen zwei Bescheinigungen darüber in die Hand, daß alle ihre Sachen und Papiere verbrannt seien... In kalten und finsteren Laderäumen rollten sie zusammen mit den Fässern hin und her, schwollen von Mückenstichen an, ernährten sich nur von Äpfeln und Pilzen, saßen nachts am Feuer, von lauernden Wolfsaugen beobachtet, versanken im Moor. Sie lag lange krank im Häuschen einer alten herzensguten Frau, lossif saß und hielt die Hand seiner Sofja, damit sie im Wahn nicht für immer von ihm gehe. Aber noch schlimmer als die Wolfsaugen und die Krankheit war, als sie mitten in der Taiga die vertraute Muttersprache der Trudarmisten hörten, die aus der Ukraine stammten. Das Herz schien ihnen zu zerreißen, als sie die Menschenskelette, die mittels Stangen Baumstämme wälzten, sahen; wie hatten sie beide geweint, wenn sie sich an diese Unglücklichen erinnerten... Zu diesem weitgelegenen Flußabschnitt wollte keiner. Sofja und lossif waren fast außer sich vor Freude, als man ihnen das vorschlug. Sie warteten nicht erst das Schiff ab, bepackten ihr Boot mit Lebensmitteln, Petroleum und Gewehr und legten sich in die Ruder, bis sie an ihrem Arbeitsplatz angekommen waren. Es war eine hungrige und kalte Jahreszeit, aber sie spendete Ruhe, und das ist das größte Glück. Sie zimmerten sich ein neues geräumiges Haus, kauften ein Kälbchen, schafften alles Notwendige an und... und wieder wird alles zerstört! Vor ein paar Minuten hatten sie noch in dem warmen Haus zu Abend gegessen, als der schwere Sturm die Schaumkämme von den Wellen riß und sie vor die Gummistiefel warf. „Mein Geliebter, gehe heute nicht nachsehen! Bei solch einem Wetter bleiben sogar die großen Schiffe vor Anker liegen.“ „Geht nicht, Sofuschka, geht nicht. Seine Arbeit muß man ehrlich verrichten, auch wenn du ganz allein auf dieser Welt sein solltest. Unbedingt muß das Bakenlicht angezündet werden, kann sich ja einer verirren, und dann ade Freiheit! Das würde man uns niemals verzeihen.“ Sie sah, wie das geteerte flache Boot verzweifelt gegen die Wellen ankämpfte, hoch auf dem Wellenkamm schaukelte und in die tiefe Schlucht herunterstürzte, den Bug hoch aufgerichtet. Da leuchtete auch das Licht an der Bake auf vor dem Hintergrund tiefhängender Herbstwolken. In der Ferne sah sie das schwarze Boot. Es tauchte auf und verschwand... Hochaufgerichtet erschien der Bug und... „A-a-a-ah!“ nahm der Wind den Schrei am Ufer auf. „A-a-a-ah!“ schrie es über die tobenden Wellen hinweg. „A-a-a-ah!“ zerschellte es an den Wipfeln der Kiefern, und sie schrien, schaukelten und streckten ihre Äste in den mitleidlosen Himmel. Die Frau lief und lief am Ufer entlang, stolperte über Baumwurzeln, zerkratzte sich an den spitzen Ästen, unter ihren Füßen erhoben sich laut schreiend die Enten, bereit zum Abflug in den Süden. Für einen winzigen Augenblick schuf sich die Sonne in den Wolken ein Fenster und verschwand sofort wieder, fast schien es, für immer... Sie kam zu sich durch den klebrigen Schüttelfrost, wie gebrochen ging sie den Weg zurück. Hier ist die Wiese, sie muß die Kuh losbinden. Blätter fallen. Hier ist ein Zweig: liebt er — liebt er nicht. Wer? Wer jetzt wohl liebt oder nicht liebt?.. „A-a-a-ah!“ — wieder hatte der Wind ihren Schrei eingefangen und trug ihn über die Berge hinweg, die Wälder und Flüsse bis in ihre Heimat, wo traurig das Mütterlein hinterm Fenster sitzt. Im Haus schwankte und fiel auf sie in ihrem Fieberwahn die Zimmerdecke herunter, im Fenster blinkten die Bakenlichter mal auf, mal verschwanden sie. Sie wälzte sich im Fiebertraum hin und her, verjagte irgendwelche gehörnten Fische von sich, große Seifenblasen tauchten auf und platzten grinsend, kalter Schaum umspülte sie, kroch in den Mund, hinderte am Atmen... Es roch scharf nach Tabakdunst. Wer raucht da? lossif mag es nicht, wenn einer raucht. In der anderen Zimmerhälfte wurde gesprochen. Mit einer Petroleumlampe in der Hand tauchte ein backenknochiger Chante vor ihr auf. „Wie dir gehen gesundheitlich? Wir haben Mann deine Ossif weit-weit weg gefunde, ich gebracht ihn... Fisch haben wenig-wenig ihn gebissen. Du hast totes Kind geboren, haben wir mit Ossif ins Eis gelegt. Warum du weinen? Nix weinen — Wasser viel geben auf Erde.“
Vor langer Zeit war das gewesen, aber wenn sie die Augen zumacht, so erinnert sie sich sogar an die feuchte Spur von den Stiefeln des Geliebten, die ins Wasser führte. Am Tage nahm sie etwas Essen zu sich, nachts umarmte sie das nasse Kissen, flüsterte, um nicht verrückt zu werden, Verse aus dem Poesiealbum ihrer Großmutter, die ihr, damals noch eine lachlustige Komsomolzin, furchtbar sentimental erschienen. Sie konnte die Navigation kaum erwarten. Man überredete sie, den Sommer über wenigstens noch hier zu bleiben. Aber im Herbst gefror der Fluß eher, als die neue Schicht eintraf. Und wie sollte sie auch Mann und Sohn im Garten unter der kleinen Tanne verlassen, diesen Hügel, durchsalzen von ihren Tränen? Mit einem alten Netz fing sie Sterlet, sammelte Enteneier ein, strickte die schönsten Pullover im Umkreis, hütete schon die Enkelin von ihrer Kuh, bereitete Butter, schaute den buntgeschmückten Passagierdampfern nach, und abends fuhr sie mit ihrem Motorboot hinaus, um die Bakenlichter und die an der Stromschnelle anzuzünden. Glückliche Reise, ihr unruhigen Geister!
Der Morgen naht. Sofja stand vom Tisch auf. Kämmte ihre grau werdenden Haare vor einem halbblinden und fleckigen Spiegel, ging in den Frost des Frühlingsmorgens hinaus, der den langanhaltenden feuchten Wind abgelöst hatte. Aus dem gezackten rosa Streifen der Morgenröte ertönte die laute Sirene eines Dieselschiffes. „Die ‚Krim‘“, erriet sie. Also, hat die Navigation begonnen. Im Hause steht die geöffnete Truhe, sie hat ihr schwarzes Kleid mit den blauen Rosen angezogen, zwinkerte mit beiden Augen der in der Ecke lächelnden Gottesmutter zu, band eine saubere Schürze um, machte Feuer im Herd, um für die Gäste das Frühstück zu bereiten. Sie konnte noch nicht wissen, daß ihr heute der Kapitän, alle Umgehungsmanöver beiseite lassend, einen Antrag machen wird. Und konnte auch nicht voraussehen, daß sie, die aufsteigende Freude unterdrückend, ihm antworten wird: „Nein, nein... ich bin schon lange verheiratet.“ WEK, 1963 Aus dem Russischen von Marianne Westphal *Die Kurzgeschichte wurde in der deutsche Zeitung "Neues Leben", Nr. 33, der 12. August 1992 auf Deutsche aufgedruckt. |